Sie ist Österreichs bekannteste oder zweitbekannteste (Mira Lobe, Autorin des „Kleinen Ich bin ich“ ist vielleicht bekannter wegen dieses netten Identitätszweifelbüchleins für Kindergartenkinder). Christine Nöstlinger wird 80 Jahre alt, aus diesem Anlaß hat der FALTER sie interviewt. Sie ist Kinderbuchautorin, und nicht mit der Jelinek (der zehn Jahre Jüngeren sind mehrere Seiten ebendesselben FALTERS gewidmet) vergleichbar, was politische Parteinahmeattitüde betrifft, Nöstlingers Parteinahme fällt daher unweit kindlicher aus.
Ich kenn die Leute ja nicht. Wir leben ja in einer Art Blase, ich kenne keinen einzigen FPÖ-Wähler. Wenn einer dabei ist, sagt er’s mir nicht. Ich versuche schon, mit diesen Leuten zu reden, aber es geht nicht.
Sie lebt also wissentlich in einer „Art Blase“, und kennt die Hälfte der Österreicher nicht. Versuche der Kontaktaufnahme scheiterten, so Nöstlinger, daran, daß diese Spezies sich noch nicht einmal über die KRONE bildet, sondern facebook und unzensuriert.at als Informationsquellen nutzt. Da braucht nur einer Internet zu haben von denen, und schon machen diese Dinge dann die Runde am Hannovermarkt im 20. Wiener Gemeindebezirk, wo sie wohnt. Und dann sei sie mal in einer Fußgängerzone einem von denen begegnet, der unkontrolliert herumschimpfte, bestimmt müsse man sich in Zukunft noch für a Watsch’n bedanken, wenn das alles in Österreich so weiterginge.
Sie ist eine achtzigjährige Kinderbuchautorin, ich sagte es bereits, paßt schon, da erwartet man sich keine Theorien. Aber man erwartet sich auch nicht derartige Weltfremdheit! Denn es sind ja keine fremden Kulturen, auch keine Jugendsubkultur, mit denen sie konfrontiert ist, sondern diese unbekannte andere Hälfte ihres Volkes: die Anderen eben.
Christine Nöstlingers „Geschichten vom Franz“ spielen nämlich nicht im Bildungsbürgertum, ganz im Gegenteil, das ist Gemeindebau, durchaus autoritäre Eltern und Lehrer und ziemlich traditionelle Nöte des achtjährigen Buben Franz, Wiener Lokalkolorit inbegriffen. Franz‘ Eltern wären vor 20 Jahren, als die Franz-Geschichten anfangen, SPÖ-Wähler gewesen, heute wären sie wohl rein statistisch betrachtet FPÖ-Wähler.
Die frühen Kinderbücher Nöstlingers traten an, um den „familiären Alltagsfaschismus“ kritisch dem jungen Publikum klarzumachen, die Autobiographie „Maikäfer, flieg!“ und der allegorische Roman „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“, genauso wie die späteren Alltagsgeschichten („Rosalinde hat Gedanken im Kopf“, „Luki Live“ u.a.) gehen allesamt von einem aus: der Kenntnis der Autorin über ein soziales Milieu, in dem Kinder dem autoritären Charakter der Erwachsenen ausgesetzt sind und ihre eigene Welt dagegen setzen.
Um das schildern zu können, muß man solche Leute kennen – oder die Texte werden klischeehaft und projektiv. „Rosalinde hat Gedanken im Kopf“ ist so ein projektiver Text: Sie möchte mal Fußballerin, mal Baggerführerin oder Hochseekapitänin oder Düsenfliegerpilotin werden. Auch wenn die anderen Kinder ihre Gedanken für „plemplem, total plemplem“ halten, hält Rosalinde an ihren Gedanken fest. So eine Mini-tomboy-story (besagte Rosalinde ist sechs Jahre alt!) ist reine feministische Autorinnenprojektion. Kritische Alltagsgeschichten vom Anderssein halten nur Kinderbuchschriftsteller für gut und natürlich ihre pädagogisch motivierten Rezensenten. Kinder im zum Protagonisten passenden Alter küren dergleichen niemals zum Lieblingsbuch, schließlich haben sie ja Gedanken im Kopf. Meistens phantastische, weltflüchtige, klischeehafte und übersteigerte.
2014 äußerte Nöstlinger in einem Interview:
Zuerst haben mein Mann und ich geglaubt, die Veränderung zum Besseren hin kommt schon. Dann brauchte es noch ein bisserl länger. Dann hat mein Mann immer zu mir gesagt, unsere Ideen müssen noch ein wenig überwintern. Es ist inzwischen ein etwas längerer Winter.
Politische Parusieverzögerung kann sich derart lange hinziehen, daß man als Achtzigjährige im Glauben an die kommende Utopie seine „Art Blase“ niemals verlassen hat und auch niemals verlassen wird. Dafür hat sie wohl mit „Hugo, das Kind in den besten Jahren“ (1983) ein Plädoyer geschrieben. „Ich muss mich nicht dauernd danach richten, was Erwachsene wollen! Ich bin ein freies Kind und weiß selbst am besten, was für mich gut ist“, heißt es darin. Hugo ist ein so genanntes „Altes Kind“. Er wird ein Leben lang kindlich bleiben, sowohl in Aussehen als auch in der hormonellen Entwicklung, und deswegen ständig unter Vormundschaft gestellt sein. Seine Eltern sind geschlechtslose Wesen namens Miesmeier 1 und 2. Doch Hugo gründet eine Gewerkschaft der Kinder und kann sich mit Zeitungspapier ein Flugschiff bauen und durch die Gegend zu fliegen, in dem er mit den Armen rudert.
Einmal durch Nöstlingers Ideologie-Blase hin und zurück, aber niemals hinaus in die Gedankenwelt der Kinder. Die haben nämlich derart durchpädagogisierten „Freie-Kinder-Kitsch“ im Grunde immer schon satt und hätten gern Helden, Dämonen, Zauberer und unbekannte Welten. Utopien sind auch „unbekannte Welten“ – aber für Erwachsene!