Eine Kinderbuchautorin hat Gedanken im Kopf

Sie ist Österreichs bekannteste oder zweitbekannteste (Mira Lobe, Autorin des „Kleinen Ich bin ich“ ist vielleicht bekannter wegen dieses netten Identitätszweifelbüchleins für Kindergartenkinder). Christine Nöstlinger wird 80 Jahre alt, aus diesem Anlaß hat der FALTER sie interviewt. Sie ist Kinderbuchautorin, und nicht mit der Jelinek (der zehn Jahre Jüngeren sind mehrere Seiten ebendesselben FALTERS gewidmet) vergleichbar, was politische Parteinahmeattitüde betrifft, Nöstlingers Parteinahme fällt daher unweit kindlicher aus.

Ich kenn die Leute ja nicht. Wir leben ja in einer Art Blase, ich kenne keinen einzigen FPÖ-Wähler. Wenn einer dabei ist, sagt er’s mir nicht. Ich versuche schon, mit diesen Leuten zu reden, aber es geht nicht.

Sie lebt also wissentlich in einer „Art Blase“, und kennt die Hälfte der Österreicher nicht. Versuche der Kontaktaufnahme scheiterten, so Nöstlinger, daran, daß diese Spezies sich noch nicht einmal über die KRONE bildet, sondern facebook und unzensuriert.at als Informationsquellen nutzt. Da braucht nur einer Internet zu haben von denen, und schon machen diese Dinge dann die Runde am Hannovermarkt im 20. Wiener Gemeindebezirk, wo sie wohnt. Und dann sei sie mal in einer Fußgängerzone einem von denen begegnet, der unkontrolliert herumschimpfte, bestimmt müsse man sich in Zukunft noch für a Watsch’n bedanken, wenn das alles in Österreich so weiterginge.

Sie ist eine achtzigjährige Kinderbuchautorin, ich sagte es bereits, paßt schon, da erwartet man sich keine Theorien. Aber man erwartet sich auch nicht derartige Weltfremdheit! Denn es sind ja keine fremden Kulturen, auch keine Jugendsubkultur, mit denen sie konfrontiert ist, sondern diese unbekannte andere Hälfte ihres Volkes: die Anderen eben.

Christine Nöstlingers „Geschichten vom Franz“ spielen nämlich nicht im Bildungsbürgertum, ganz im Gegenteil, das ist Gemeindebau, durchaus autoritäre Eltern und Lehrer und ziemlich traditionelle Nöte des achtjährigen Buben Franz, Wiener Lokalkolorit inbegriffen. Franz‘ Eltern wären vor 20 Jahren, als die Franz-Geschichten anfangen, SPÖ-Wähler gewesen, heute wären sie wohl rein statistisch betrachtet FPÖ-Wähler.

Die frühen Kinderbücher Nöstlingers traten an, um den „familiären Alltagsfaschismus“ kritisch dem jungen Publikum klarzumachen, die Autobiographie „Maikäfer, flieg!“ und der allegorische Roman „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“, genauso wie die späteren Alltagsgeschichten („Rosalinde hat Gedanken im Kopf“, „Luki Live“ u.a.) gehen allesamt von einem aus: der Kenntnis der Autorin über ein soziales Milieu, in dem Kinder dem autoritären Charakter der Erwachsenen ausgesetzt sind und ihre eigene Welt dagegen setzen.

Um das schildern zu können, muß man solche Leute kennen – oder die Texte werden klischeehaft und projektiv. „Rosalinde hat Gedanken im Kopf“ ist so ein projektiver Text: Sie möchte mal Fußballerin, mal Baggerführerin oder Hochseekapitänin oder Düsenfliegerpilotin werden. Auch wenn die anderen Kinder ihre Gedanken für „plemplem, total plemplem“ halten, hält Rosalinde an ihren Gedanken fest. So eine Mini-tomboy-story (besagte Rosalinde ist sechs Jahre alt!) ist reine feministische Autorinnenprojektion. Kritische Alltagsgeschichten vom Anderssein halten nur Kinderbuchschriftsteller für gut  und natürlich ihre pädagogisch motivierten Rezensenten. Kinder im zum Protagonisten passenden Alter küren dergleichen niemals zum Lieblingsbuch, schließlich haben sie ja Gedanken im Kopf. Meistens phantastische, weltflüchtige, klischeehafte und übersteigerte.

2014 äußerte Nöstlinger in einem Interview:

Zuerst haben mein Mann und ich geglaubt, die Veränderung zum Besseren hin kommt schon. Dann brauchte es noch ein bisserl länger. Dann hat mein Mann immer zu mir gesagt, unsere Ideen müssen noch ein wenig überwintern. Es ist inzwischen ein etwas längerer Winter.

Politische Parusieverzögerung kann sich derart lange hinziehen, daß man als Achtzigjährige im Glauben an die kommende Utopie seine „Art Blase“ niemals verlassen hat und auch niemals verlassen wird. Dafür hat sie wohl mit „Hugo, das Kind in den besten Jahren“ (1983) ein Plädoyer geschrieben. „Ich muss mich nicht dauernd danach richten, was Erwachsene wollen! Ich bin ein freies Kind und weiß selbst am besten, was für mich gut ist“, heißt es darin. Hugo ist ein so genanntes „Altes Kind“. Er wird ein Leben lang kindlich bleiben, sowohl in Aussehen als auch in der hormonellen Entwicklung, und deswegen ständig unter Vormundschaft gestellt sein. Seine Eltern sind geschlechtslose Wesen namens Miesmeier 1 und 2. Doch Hugo gründet eine Gewerkschaft der Kinder und kann sich mit Zeitungspapier ein Flugschiff bauen und durch die Gegend zu fliegen, in dem er mit den Armen rudert.

Einmal durch Nöstlingers Ideologie-Blase hin und zurück, aber niemals hinaus in die Gedankenwelt der Kinder. Die haben nämlich derart durchpädagogisierten „Freie-Kinder-Kitsch“ im Grunde immer schon satt und hätten gern Helden, Dämonen, Zauberer und unbekannte Welten. Utopien sind auch „unbekannte Welten“ – aber für Erwachsene!

 

 

Angstroman – ein Paradestück der Projektion

Der blaue Betriebsrat hatte beim Sommerfest bei der Erdbeerbowle durchblicken lassen, daß er die Frage der Autochthonie schon einmal ernst nehmen wolle und hatte eine Umfrage begonnen, wer von den Angestellten und den freien Mitarbeitern in der dritten Generation Österreicher sei und deshalb für den Bezug aller Sozialleistungen berechtigt wäre. Vronis Mutter hieß Manca und der blaue Betriebsrat erkundigte sich scherzend, was denn das für ein Name sei. Ein österreichischer Name sei das ja nun nicht und ob er sich für Vronis Mutter einsetzen solle, damit sie nicht in die Kategorie Ausländer gerate.

Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz veröffentlicht jeden Donnerstag ein neues Kapitel ihres Online-Romans „So wird das Leben“: http://www.marlenestreeruwitz.at/wahlkampfroman-2016-so-wird-das-leben-3-folge/ zur Bundespräsidentenwahl in Österreich.

Im STANDARD dieses Wochenendes konnte man die Motivation zum Verfassen dieses Romans in einem Interview lesen, obwohl die Motivation schon in dem Roman selber völlig durchsichtig und platt den Figuren in den Mund gelegt wird:

„Wenn dieser Höflein die Wahlen gewinnt. Der braucht nur sagen „Ich gelobe.“, und sein nächster Satz kann schon sein, „Ich entlasse die gesamte Regierung und löse den Nationalrat auf.“ Vroni mußte seufzen. Ging das wirklich so einfach. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Es gab doch eine Verfassung, die genau das verhindern sollte. Österreich war doch ein demokratisches Land. Da konnte niemand so einfach die Volksvertretung auflösen. „Es ist sich sozusagen niemand im Klaren wie gefährlich unsere Situation ist. Ich bin Juristin, wissen Sie.“

Dasselbe sagt Frau Streeruwitz im Interview, mit Klarnamen des Kandidaten Hofer, versteht sich, sie zitiert ihre wahren Erkenntnisse lieber noch einmal selber, damit ja kein Leser vielleicht nicht mitbekommt: Frau Streeruwitz hat Angst.

Sie hat Angst, wenn Hofer Bundespräsident wird. „So wird das Leben“ soll eine Warnung, eine Mahnung sein, beinhaltend, daß sie als Kassandra vorausgesehen hat, wie nach der Machtergreifung alles Unheil langsam aber stetig seinen Lauf nimmt.

Da treten „die Identitären“ auf, in der Rolle der SA, „die Burschenschafter“ in der Rolle der Strippenzieher im Hintergrund des allmächtigen Präsidenten, „die zwei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingsbuben“ in der Rolle der jüdischen Kinder, die versteckt gehalten werden müssen usw. usf. – der Roman hat irgendwie eine historische Vorlage …

Was passiert eigentlich, wenn die „Rechtspopulisten“ die Macht übernähmen? Was glauben Linke? Ich diskutierte gestern mit jemandem, der in die Runde fragte: „Na, was glaubt ihr, was die Leute da denken?“ Ich, wie aus der Pistole geschossen: „Ethnische Säuberungen!“ Das jedenfalls glaubt H ernsthaft, und wie ich erfuhr, ein alter linker Freund des Fragestellers ebenfalls. Ich kann hinzufügen: übrigens, Pogrome sind nicht geplant bis auf weiteres ….

Diese Szene hatte ich vor zwei Monaten kurz geschildert unter „Vermischte Bemerkungen“, da muß sie jetzt raus, denn derart Absurdes hat offensichtlich literarischen Rang erlangt.

Streeruwitz verwurstet just solche „irrationalen Ängste“, die ja stetig und anschwellend dem rechten Denken und Wählen unterstellt werde, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein Paradestück der Projektion!

Was genau macht ihr solche Angst? Im Roman kann es ja dunkel dräuend bleiben, Anspielungen genügen, der Leser macht sich von alleine seinen Reim, hat er doch seit frühen Jugendjahren einschlägige Vergangenheitsbewältigungsliteratur  und -filme intus.

Ich zähle auf, was im Interview an angsteinflößenden Streeruwitz zufolge unweigerlich eintretenden politischen Entwicklungen genannt wird:

„die völkisch-nationale Anordnung der Rechten“ statt der „Demokratie, die wir kennen“

„es wird die Solidarität aufgegeben“, zwischen „Staatsbürgerschaften getrennt“

„stiller Staatsstreich“ dank der „Verfassungsnovelle von 1929“

„mit dieser rassistischen Religionsauffassung beginnt eine Zurichtung des Staatsbürgers“

dann ist der „mittelalterliche Zustand erreicht, daß bestimmte Personen bestimmte Dinge anziehen dürfen oder nicht“

„Hofer und die FPÖ wollen ja herrschen, die demokratischen Parteien sollten aber vertreten wollen“

„unwiederbringlich ständestaatliche Organisation“.

Das alles klingt schlimm, sehr schlimm, indes: es ist reine Projektionsnovellistik. Die Novelle als Genre ist die „unerhörte Begebenheit“, einen gewissen Grusel und eine gewisse Schaulust setzt sie voraus und in Gang. Die Autorin projiziert zuerst einmal ihre aktuellen Ängste auf die historische Situation. Es wiederholt sich alles in Kleinformat, was nach der Machtergreifung 1933 dann abgelaufen ist, ganz pfiffiges Strickmuster für einen Roman, zugestanden, aber politisch ausgesprochen gefährlich – an genau dieser Stelle hat literarische Ästhetisierung propagandistische Funktion.

Wirklich grotesk ist ihre Vorstellung, daß in der Geschichte der zweiten Republik kein Mensch gemerkt hat, wie gefährlich der Ermächtigungsvorbehalt des Präsidenten in Wirklichkeit ist, weil bisher immer nur nette Demokraten das Amt innehatten. Die Gefahr dieses in den Tiefen der österreichischen Judikatur verborgenen Mechanismus‘ ist „offenkundig nur den Leuten bewußt, die ein Begehren haben, diesen Staat wirklich umzukrempeln“ – und Frau Streeruwitz selber! Sie projiziert also ihre Revolutionsphantasien („Es geht um eine andere Form der Revolution“) in die Köpfe von Norbert Hofer und der FPÖ-Wähler. Ich gehe jede Wette ein, daß die FPÖ sowas von keinerlei revolutionäre Pläne hat, ist sie doch eine etablierte österreichische Volkspartei, das sagt alles.

Das „Ständestaatliche“ ist eine österreichische Spezialität der Jahre 1933-38, Wikipedia definiert: „der Ständestaat ist ein nach Berufsgruppen (altertümlich „Stände“ genannt) organisierter Staat ohne politische Parteien und demokratisch gewähltes Parlament, jedoch mit einer den Staat tragenden weltanschaulichen Bewegung“.

Die Romanautorin wird nicht müde, den Ständestaat heraufzubeschwören, es kann nur beschwörend funktionieren, denn politisch ist aktuell keine irgendwie sinnvolle Rede von „Ständen“ denkbar (und die „den Staat tragende weltanschauliche Bewegung“ ist genauso links und grün und „friedlich demokratisch“, wie es Streeruwitz gerne hat). Also reicht auch eine unsinnige Rede: “ es gibt dann Gruppen oder Stände, die im Staat miteinander verhandeln müssen“ – hm, Gruppen ja wohl definitionsgemäß in Demokratien immer, und diese dann „Stände“ zu nennen, speist sich einzig und allein aus Streeruwitz‘ Vorstellung, daß „das Ständestaatliche“ der „friedlichen Demokratie“ diametral entgegengesetzt wäre. Da dreht sich etwas im Kreise.

Eine kleine feine Fehlleistung ist, daß das demokratische Prinzip, wenn es verloren ginge, „unwiederbringlich ständestaatliche Organisation“ nach sich ziehe. „Unwiederbringlich“ bedeutet: leider ging sie uns verloren, die gute alte ständestaatliche Organisation, Streeruwitz meint wohl „unweigerlich“.

Frau Streeruwitz sei zur Beruhigung eindringlich versichtert: „so“ wird das Leben nicht. Weder, wenn van der Bellen gewinnt, no na net, noch, wenn Hofer gewinnt. In ersterem Falle bleibt das Lesepublikum ihrer Angstnovelle in seiner selbstbeweihräuchernden anheimelnden Sicherheit, „es“ noch einmal verhindert zu haben, in zweiterem Falle wird recht schnell klar werden, wie groß die Enttäuschung der linken Wiedergängergruselromanleser sein wird, wenn „er“ nicht hält, was sie sich von ihm alles versprochen haben.

 

 

Dialektik der Gegenöffentlichkeit

Man könnte wirklich versucht sein, wieder mit dem altehrwürdigen Suchbegriff „Dialektik“ an die Medienwelt heranzutreten. Dialektik ist, wenn man etwas groß macht, indem man es kleinredet.

Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine, die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag

– das ist aus Brechts „Schwejk“, das Drohend-Verheißungsvolle dieser Dialektik erfreut mich immer mal wieder. Dialektik ist, wenn etwas ein eklatanter Selbstwiderspruch ist, der über sich hinausweist, mit unkalkulierbaren Folgen. Eine solche contradictio in adiecto hat der KURIER uns heute entgegengeworfen (ad-iectum).

Unter dem Titel „Die Konkurrenz aus dem digitalen Untergrund“ erklärt sich die Mainstreampresse offenherzig wie sonst nie selber für bankrott. Ich fürchte, der Journalist Karl Oberascher merkt nicht, was er tut, oder aber er ist der Eigenlogik seines Systems unentrinnbar unterworfen.

Was immer er tut, es ist falsch: schriebe er nicht darüber, daß rechte Medien inzwischen mehr konsumiert werden als der Mainstream, würde er eine alarmierende Wahrheit verschweigen, da er indes darüber schreibt, holt er just die in den „Untergrund“ abgeschobenen Medien aus demselben an die Oberfläche.

„FPÖ-TV“ auf Youtube erreicht mehr User als alle Medienunternehmen Österreichs zusammen (!) und

laut Eigenangaben – offizielle Daten sind nicht verfügbar – kommt unzensuriert.at inzwischen auf bis zu 3,6 Millionen Zugriffe im Monat (Zum Vergleich: Letzt- und Höchstwert für September 2015; Kurier.at kam vergangenen Juli auf rund 11,1 Millionen Visits). Der Unterschied: Ein unabhängiges Medium ist unzensuriert.at freilich nicht. Ursprünglich als Blog des ehemaligen Dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf gestartet, ist unzensuriert.at seit 2009 so die „digitale Vorfeldorganisation der FPÖ“, sagt Andreas Peham von Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW).

Auch hier wieder die hinreißendste Selbstkarikatur: die Kritik an unzensuriert.at lautet, es sei nicht neutral und „unabhängig“, und zwar im Gegensatz zum KURIER selbst. Und um diese Neutralität zu untermauern, beruft sich Oberascher auf das linke „Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands“, das sich neben der historischen Dokumentation explizit der „Rechtsextremismus“-Überwachung verschrieben hat, und eine Medien- „Watchlist“ für alles, was nur entfernt nach „Nazi“ riecht, betreibt. Daß es so etwas wie „Neutralität“ im System der Massenmedien schlicht und ergreifend nicht geben kann, kann er nicht sehen.

Daß  in auf die breite Öffentlichkeit zugeschnittenen rechten Medien (diese zu benennen scheut sich Oberascher eigentümlich, er nennt das, wofür er keinen Begriff lancieren möchte oder kann „die mediale Entsprechung der ‚Lügenpresse‘-Rufer“) auch Verrücktheiten und Randthemen (ja, Chemtrails bleiben nie aus, auch um Impfgegner kommt die Diffamierung nicht herum, und ja, Antisemitismus  m u ß   Erwähnung finden) notorisch sind, hält er für so gefährlich, daß er an der „Medienkompetenz“ der unmündigen User zweifeln muß und sie gern in „Quellenkritik“ unterrichten würde.

Immer wieder gesteht er ein, daß die neuen „leistungsstarken alternativen Medien der Gegenöffentlichkeit“ (Andreas Storz) den Mainstreammedien den Rang ablaufen.

Sie zu diffamieren, setzt einen unhaltbaren Wahrheitsbegriff voraus. Punkt 1: Keine einzige Medientheorie geht heute mehr von der alten marxistischen Abbildtheorie aus, nach der es eine eindeutige Korrespondenz zwischen Darstellung und Wirklichkeit gibt, also auch nicht „Neutralität“ und „Unabhängigkeit“. Übrigens war da die marxistische Theorie selbst schon deutlich weiter: alle Interessen sind in Wahrheit Klasseninteressen. Punkt 2: Die Tatsache, daß rechte Medien aufeinander verweisen, die angeprangerte Struktur der „gegenseitigen Verlinkungen“ ist kein Alleinstellungsmerkmal rechter Seiten, im Gegenteil, das Internet  i s t  seiner Natur nach Hypertext. Punkt 3: Medienkompetenz bedeutet eben nicht, dem Mainstream automatisch zu folgen. Wenn man den Begriff Kompetenz inhaltlich füllt (was in der Mediendidaktik in der Tat gern gemacht wird: „diesen Seiten kann man vertrauen“ – „hier verlässt du den vetrauenswürdigen Bereich“), führt sich der Begriff selbst ad absurdum. Internetkompetenz ist Unterscheidungskompetenz, nicht Folgeleistungskompetenz. Punkt 4: die „Filterbubble“, die durch Suchalgorithmen „bestimmte Realitäten im virtuellen Raum verstärkt“ funktioniert natürlich auch in rechten Kreisen syntaktisch, nicht semantisch – das heißt, sie filtert nicht dem Nutzer ideologisch genehme Inhalte heraus, soweit ist das Web 2.0 noch nicht. Es kommen also bei einem rechten Internetnutzer nicht lauter rechte Inhalte an, wenn sich das Internet einmal an seine deviante Gesinnung gewöhnt haben sollte!

Daß die User souveräner sind, als der KURIER glaubt, zeigt eindrucksvoll der Kommentarbereich zum Artikel. Wieder argwöhne ich eine längst vergessen geglaubte Dialektik im Spiel, so modellhaft entwickelt sich hier eine Synthese. Mainstreammedien erzeugen ihren Antagonismus in Form von  alternativen Medien der Gegenöffentlichkeit. Und wenn dann die Mainstreammedien gegen ihr eigenes Produkt aufzubegehren beginnen, hat die Geschichte schon gearbeitet und die Gegenöffentlichkeit zeigt sich in den Mainstreammedien selbst. Die Kommentatoren im KURIER leisten Erstaunliches: wirkliche Medienkritik – also die muß keiner mehr didaktisch an die Hand nehmen und ihnen den linken Weg weisen. Dialektik ist, wenn das Volk Bewußtsein entwickelt.

 

 

 

Reinheitsphantasien am WC

Heinzelmaiers Adlatus kann es auch (siehe: Heinzlmaier und die rohen Männer). In der Augustausgabe des Magazins NEON wird Philipp Ikrath, der gemeinsam mit Reinhard Heinzlmaier die „Generation Ego“ erfand, interviewt, Thema: Junge Rechte.

Ikrath versucht allerdings, mit einem total konträren Suchbegriff des Phänomens der jungen Rechten Herr zu werden. Sprach sein Doktorvater von den jungen rechten Männern als bösen rohen Wilden, die im Prozeß der Zivilisation nicht mitgekommen seien, hält Ikrath sie für hyperhygienische Spießer.

Man könnte sagen, die Welt dieser Spießer riecht wie ein gerade frisch geputztes WC. Da ist alles frisch, alles rein, da gibt es nichts Gefährliches.

Adornos „autoritärer Charakter“, auf den sich Ikrath bezieht, ist nicht von ungefähr ein Abkömmling von Freuds „analem Charakter“: der Zwang zur Anpassung, übertriebene Pünktlichkeit, Ordnung, Sparsamkeit,  Genauigkeit und Eigensinn vereinen sich in einer Figur, die sich vor „denen da oben“ fürchtet, und diese Angst zwanghaft abführt, indem sie „die ganz unten“ tritt. Mit diesem Erklärungsmuster tritt er an die Rechten heran und findet wenig überraschend: den Spießer.

Hätten wir längst totgeglaubt, Ikrath eigentlich auch, Reihenhaus, Karopullunder und Golden Retriever kommen auch gleich in die Lade, aber Helene Fischer kommt aus der Lade wieder hervor als Verkörperung des aktuell Spießigsten. Hm, was haben FPÖ- und AfD-Wähler mit Helene Fischer gemein?

Im Kern ist der Spießer eine Person, die sich an den herrschenden Zeitgeist zumindest anlehnt.

Jeder Mensch lehnt sich an den herrschenden Zeitgeist irgendwie an, Ikraths Definition ist also zu weit. Spannend werden dann die Implikationen der Spießerdefinition: der Spießer ist Mitläufer, der Mainstream ist also auf eine diffuse Weise „rechts“. Soweit sind wir also schon gekommen. Ikraths Metapher aus der Astrophysik der Sternentstehung (He Leute, frohlocket, da entsteht ein Stern!) ist die „neoliberale Gassphäre“, in deren Mitte sich ein Kern verdichtet habe, der die alten Rollenangebote wieder zurückhaben möchte.

Ikrath ist ganz in der Spur vom flamboyant unehrenhaften Heinzlmaier, wenn er Frauen als weniger verführbar für die „Machtrhetorik rechter Parteien“ sieht, weil sie zum Glück „eher zur Versöhnlichkeit erzogen“ worden wären. Das widerspricht allerdings seiner eigenen Spießerthese, denn der Spießer ist ja absolut versöhnlich und sozial zwanghaft angepaßt. Was denn nun? Wilde Machtphantasien oder Reinheitsphantasien am WC?

Die Interviewerin, Eva Reisinger, stellt ihm eine unglaublich implikationenerzwingende Frage: „Ist es heute legitimer, rechts zu sein als in den 30er Jahren?“

(Wenn ja, hah, wir sind noch übler dran heute als damals, als die Nazis aufkamen, wenn nein: Rechtssein ist illegitim!).

Und der Jugendforscher springt über das Stöckchen und meint dazu, es sei „definitiv enttabuisiert“ worden!  Die Kornblumendebatte hätte sich damit erledigt, in den 30er Jahren war es definitiv legitim (sagen wir: Anhänger der Zentrumspartei und der Deutschnationalen waren „rechts“), nur die NSDAP war phasenweise illegal. Damals also kein Tabu, heute noch weniger. Interessant, wirklich interessant.

Die linke Jugendforschung sieht das Problem, interpretiert sogar Studien (Wertestudie 2011: 64% sehen ihre eigene Zukunft positiv, nur 22% sehen die Zukunft der Gesellschaft positiv) absolut richtig.

Viele haben die gleiche Einstellung wie Margaret Thatcher damals: dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur eine Ansammlung von Individuen. Wenn man mit dieser Denkweise aufgewachsen ist, ist das Ergebnis nicht mehr so paradox. Dann kann man auch im Orchester der sinkenden Titanic noch seinen Spaß haben

Eine Jugend, die keine Identität mehr hat, wird entweder hedonistisch, hat also zumindest oberflächlich keine Identität mehr nötig, sondern nur noch Spaß, oder sie sehnt sich zunehmend offen nach einer solchen. Wie soll die Soziologie damit umgehen? Substanzbegriffe wie „Herkunft“ hat sie aussortiert, die komplexe digitalisierte Moderne darf man nicht mehr mit „analogen“ Antworten vereinfachen, meint Armin Nassehi, und wer es doch tut, macht sich der Komplexitätsreduktion schuldig (das ist die zentrale These seines Buches: Die letzte Stunde der Wahrheit, 2015).

Wie gehen wir mit jungen Rechten um, die sich entweder theoretisch oder lebenspraktisch einen feuchten Kehricht darum scheren, ob sie unzulässige Komplexitätsreduktion betreiben? Wir müssen das als Bedrohung verstehen, und als Wissenschaftler bietet sich da eigentlich nur eine einzige Waffe an: Diffamierung.

Ikraths „Erklärungen“ des Phänomens der Rechtswähler kommen aus der Mottenkiste der Ideologiekritik (autoritärer Charakter! Spießer! anale Reinheitsphantasien!). Solange die Identitären (als wirkliche Jugendbewegung) für Ikrath noch unpolitisch parallelisierbar sind mit einem sowas von unbedrohlichen Jugendphänomen, den Hipstern („regional einkaufen, handwerken, basteln“ tun sie ja beide gern, behauptet er – ich kenne keine Identitären, die das mögen :-)…), kann er sie kulturell erklären. Politisch versagen dem Jugendforscher die Kräfte, da kommt nur noch die übliche Polemik: „rechtsextrem“, „völkisch“, „Blut- und Bodenmentalität“.

Der vermeintliche verhinderte Spießer kann seine WC-Ente stecken lassen und losziehen um den Jugendforscher zu verunsichern: der Faschismus stehe plötzlich der Faschismusforschung gleichberechtigt gegenüber – das ist schon eine größere Nummer.