Dialektik der Gegenöffentlichkeit

Man könnte wirklich versucht sein, wieder mit dem altehrwürdigen Suchbegriff „Dialektik“ an die Medienwelt heranzutreten. Dialektik ist, wenn man etwas groß macht, indem man es kleinredet.

Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine, die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag

– das ist aus Brechts „Schwejk“, das Drohend-Verheißungsvolle dieser Dialektik erfreut mich immer mal wieder. Dialektik ist, wenn etwas ein eklatanter Selbstwiderspruch ist, der über sich hinausweist, mit unkalkulierbaren Folgen. Eine solche contradictio in adiecto hat der KURIER uns heute entgegengeworfen (ad-iectum).

Unter dem Titel „Die Konkurrenz aus dem digitalen Untergrund“ erklärt sich die Mainstreampresse offenherzig wie sonst nie selber für bankrott. Ich fürchte, der Journalist Karl Oberascher merkt nicht, was er tut, oder aber er ist der Eigenlogik seines Systems unentrinnbar unterworfen.

Was immer er tut, es ist falsch: schriebe er nicht darüber, daß rechte Medien inzwischen mehr konsumiert werden als der Mainstream, würde er eine alarmierende Wahrheit verschweigen, da er indes darüber schreibt, holt er just die in den „Untergrund“ abgeschobenen Medien aus demselben an die Oberfläche.

„FPÖ-TV“ auf Youtube erreicht mehr User als alle Medienunternehmen Österreichs zusammen (!) und

laut Eigenangaben – offizielle Daten sind nicht verfügbar – kommt unzensuriert.at inzwischen auf bis zu 3,6 Millionen Zugriffe im Monat (Zum Vergleich: Letzt- und Höchstwert für September 2015; Kurier.at kam vergangenen Juli auf rund 11,1 Millionen Visits). Der Unterschied: Ein unabhängiges Medium ist unzensuriert.at freilich nicht. Ursprünglich als Blog des ehemaligen Dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf gestartet, ist unzensuriert.at seit 2009 so die „digitale Vorfeldorganisation der FPÖ“, sagt Andreas Peham von Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW).

Auch hier wieder die hinreißendste Selbstkarikatur: die Kritik an unzensuriert.at lautet, es sei nicht neutral und „unabhängig“, und zwar im Gegensatz zum KURIER selbst. Und um diese Neutralität zu untermauern, beruft sich Oberascher auf das linke „Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands“, das sich neben der historischen Dokumentation explizit der „Rechtsextremismus“-Überwachung verschrieben hat, und eine Medien- „Watchlist“ für alles, was nur entfernt nach „Nazi“ riecht, betreibt. Daß es so etwas wie „Neutralität“ im System der Massenmedien schlicht und ergreifend nicht geben kann, kann er nicht sehen.

Daß  in auf die breite Öffentlichkeit zugeschnittenen rechten Medien (diese zu benennen scheut sich Oberascher eigentümlich, er nennt das, wofür er keinen Begriff lancieren möchte oder kann „die mediale Entsprechung der ‚Lügenpresse‘-Rufer“) auch Verrücktheiten und Randthemen (ja, Chemtrails bleiben nie aus, auch um Impfgegner kommt die Diffamierung nicht herum, und ja, Antisemitismus  m u ß   Erwähnung finden) notorisch sind, hält er für so gefährlich, daß er an der „Medienkompetenz“ der unmündigen User zweifeln muß und sie gern in „Quellenkritik“ unterrichten würde.

Immer wieder gesteht er ein, daß die neuen „leistungsstarken alternativen Medien der Gegenöffentlichkeit“ (Andreas Storz) den Mainstreammedien den Rang ablaufen.

Sie zu diffamieren, setzt einen unhaltbaren Wahrheitsbegriff voraus. Punkt 1: Keine einzige Medientheorie geht heute mehr von der alten marxistischen Abbildtheorie aus, nach der es eine eindeutige Korrespondenz zwischen Darstellung und Wirklichkeit gibt, also auch nicht „Neutralität“ und „Unabhängigkeit“. Übrigens war da die marxistische Theorie selbst schon deutlich weiter: alle Interessen sind in Wahrheit Klasseninteressen. Punkt 2: Die Tatsache, daß rechte Medien aufeinander verweisen, die angeprangerte Struktur der „gegenseitigen Verlinkungen“ ist kein Alleinstellungsmerkmal rechter Seiten, im Gegenteil, das Internet  i s t  seiner Natur nach Hypertext. Punkt 3: Medienkompetenz bedeutet eben nicht, dem Mainstream automatisch zu folgen. Wenn man den Begriff Kompetenz inhaltlich füllt (was in der Mediendidaktik in der Tat gern gemacht wird: „diesen Seiten kann man vertrauen“ – „hier verlässt du den vetrauenswürdigen Bereich“), führt sich der Begriff selbst ad absurdum. Internetkompetenz ist Unterscheidungskompetenz, nicht Folgeleistungskompetenz. Punkt 4: die „Filterbubble“, die durch Suchalgorithmen „bestimmte Realitäten im virtuellen Raum verstärkt“ funktioniert natürlich auch in rechten Kreisen syntaktisch, nicht semantisch – das heißt, sie filtert nicht dem Nutzer ideologisch genehme Inhalte heraus, soweit ist das Web 2.0 noch nicht. Es kommen also bei einem rechten Internetnutzer nicht lauter rechte Inhalte an, wenn sich das Internet einmal an seine deviante Gesinnung gewöhnt haben sollte!

Daß die User souveräner sind, als der KURIER glaubt, zeigt eindrucksvoll der Kommentarbereich zum Artikel. Wieder argwöhne ich eine längst vergessen geglaubte Dialektik im Spiel, so modellhaft entwickelt sich hier eine Synthese. Mainstreammedien erzeugen ihren Antagonismus in Form von  alternativen Medien der Gegenöffentlichkeit. Und wenn dann die Mainstreammedien gegen ihr eigenes Produkt aufzubegehren beginnen, hat die Geschichte schon gearbeitet und die Gegenöffentlichkeit zeigt sich in den Mainstreammedien selbst. Die Kommentatoren im KURIER leisten Erstaunliches: wirkliche Medienkritik – also die muß keiner mehr didaktisch an die Hand nehmen und ihnen den linken Weg weisen. Dialektik ist, wenn das Volk Bewußtsein entwickelt.

 

 

 

7 Gedanken zu “Dialektik der Gegenöffentlichkeit

  1. Sollte man gesellschaftliche Wirklichkeit nicht besser mit Begriffen fassen, die ihr dichter anliegen als diese berühmte „Dialektik“, deren Hauptnutzen für gewöhnlich zu sein scheint, selbstgewiss auf das Tertium non datur pfeifen zu können? Der Schamane hat ein konkretes Phänomen, steckt es in die weiten semantischen Ärmel seines Gewandes und zieht dann dann das weiße Kaninchen mit der großen roten Schleife heraus, die vorgeblich die Welt zusammenhält. Tut sie auch wirklich, aber nur deklamatorisch. Die Dialektik ist das Gesetz des Umschlags von Realien in leere Abstrakta, die durch Paradoxien ansehnlich gemacht werden.

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    1. „Die Dialektik ist das Gesetz des Umschlags von Realien in leere Abstrakta, die durch Paradoxien ansehnlich gemacht werden.“ – Wumm! Wieder so ein Hammersatz des Pérénigrateurs – fast hätte ich Terminagrateurs geschrieben – der einen umbläst wie die Druckwelle einer A-Bombe. Das ist schon eine Gabe! Muß man sich erst von erholen …

      Dann aber! Dieser kleine Dialektismus versuchte ja gar nicht, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu beschreiben, sondern „flirtete“ nur ein wenig intellektuell mit der Gastgeberin und ihren Gästen, oder versuchte die Degen zu kreuzen. Eine Spielerei.

      Dann auch noch! Mir scheint dennoch die Dialektik ein mächtiges Erkenntnisinstrument zu sein, das man nicht zu schnell aufs Alteisen werfen sollte. Allein schon, um Platon, Cusanus, Bruno, Spinoza, Leibniz, Hegel, Marx, Lenin, Harich usw. verstehen zu können, und wenn mich nicht alles täuscht, sogar diesen Luhmann (aber das ist nur ein Testballon).

      Desweiteren! Dialektik und Aussagenlogik sind zwei Paar Schuhe. Erstere nimmt nämlich für sich in Anspruch, die Entwicklung des Seins beschreiben zu können, auch des gesellschaftlichen, aber nicht des logischen, sofern Logik „Konstrukt“ ist. Das tertium non datur ist dafür das Idealbeispiel – die W e l t ist komplexer; für sie gilt sehr oft: tertium datur, quartum datur, quintum, sextum … ad infinitum datur. Und genau das beschreibt die Dialektik , sofern, sofern man sie nicht als leeres Abstraktum begreift, in spiralförmigen Bildern. Freilich: auch das ist „nur“ Deklamation, die man bezweifeln kann.

      Wie Aristoteles schon meinte: Dialektik ist ein Hilfsmittel, mit der man nicht die Wahrheit oder Falschheit erkennt – da überfordert man sie –, mit der man sie aber b e s s e r und l e i c h t e r erkennt. Das ist eine der wenigen Fragen, wo ich Heidegger nicht folgen mag, der die Dialektik ablehnte.
      Aber es gilt auch: es ist e i n e Methode und man sollte andere nicht ausschließen. Sie kann einen Puzzlestein zum Bild der Realität zufügen, mehr nicht. Der Fehler der Marxisten war war nicht die Dialektik als solche, es war die Verabsolutierung.

      (Leider sind alle meine Bücher gerade in Kisten verpackt, so daß ich hier ein wenig Freistilschwimmen betreiben muß.)

      PS. Noch einmal die Bitte an die Chefin (Köchin), doch die Liste der sichtbaren Kommentare zu erhöhen.

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      1. Ein Erkenntnisinstrument ist es, sich in allem der Kritik auszusetzen, weil die eigenen Hirngespinste (das Wort ist gar nicht schlechthin abwertend gemeint) zu viel an Überzeugungskraft haben. Insofern sollten alle zuweilen den Säbel und nicht nur das Florett führen, ganz gewiss aber den anderen nicht nur Blümelein hinhalten. Dazu muss wohl aus anthropologischen Gründen ein Schuss Agonalität hinein. Wenn das und nur das mit Dialektik gemeint wäre, hätte ich keinen Einwand gegen sie.

        Die Platonische Dialektik würde meines Erachtens sehr gewinnen, wenn er seiner Handpuppe Sokrates weniger oft nur Pappkameraden entgegenstellte. Ich mag nicht glauben, dass diese in ihrer Zeit renommierten Antagonisten eine so schafshafte Naivität an den Tag gelegt haben sollten, dass Sokrates sie so leicht mit der Geburtszange seiner Mutter hätte zwicken können.

        Bei Hegel sind wir dann auf der Höhe, wo der Geschichte und der Natur selbst ein dialektisches Bewegungsgesetz unterstellt wird, und das scheint mir hanebüchen. Stellen wir uns beispielhaft einmal die Kräfte der Selektion vor, die an einem Genom angreifen; es sind unzählige, und alle in etwas anderer Richtung, manchmal fast parallel, manchmal fast gegenläufig. Das Ergebnis folgt eher dem Gesetz des Kräfteparallelogramms, und was soll denn da das Gegenteil von was sein, und was die berühmte Aufhebung? Dieses Triadenschema ist ein den wirklichen Abläufen aufgepfropftes Schema. Was ist übrigens das Gegenteil von Salz? Zucker oder Pfeffer? Mit der Flucht in die unfassliche Abstraktion kann man natürlich auch hier vieles retten, wenn das Gegenüber sich durch eigene Unverständlichkeit beeindrucken lässt.

        Hegel hätte Poet oder Romancier werden sollen, denn ein Satz wie „Die Eule der Minerva hebt nur in der Dämmerung zu ihrem Flug an“ ist schon sehr beeindruckend, aber wohl falsch. Welche Zeitenwende fand denn während der Wirkungszeit von Hume statt? Und, um auf ein uns allen näherliegendes Thema zu kommen: Welche genialen Denker haben denn die islamischen Gesellschaften angesichts ihrer Entwicklungshemmnisses und der jüngsten Unrast hervorgebracht? Vielleicht würde Hegel diese sogar als grundsätzlich entwicklungsunfähig auffassen, aber der schöne Satz ist dann eben zu allgemein, um nicht zu Fehlschlüssen zu verführen, jedenfalls diejenigen, die etwas auf Prophetenworte geben.

        Lenin scheint mir mehr ein sehr fähiger, da vor allem skrupelloser politischer Taktiker zu sein als ein Theoretiker. Solschenizyns Behauptung in „Lenin in Zürich“, Lenin habe diesen Schinken „Materialismus und Empiriokritizismus“ nur geschrieben, um die innerparteiliche Konkurrenz per Denunziation als heterodoxe Marxisten auszuschalten, scheint mir sehr plausibel. Er war wohl für jede auch theoretische Wendung gut, wenn sie nur seinen jedesmaligen Zielen förderlich schien. Man kann das natürlich als „Dialektik“ verpacken – „Genossen, heute das Gegenteil von gestern, aus dialektischen Gründen!“ Was tut man nicht alles, um sture Dogmatiker zu biegen und um den eigenen Finger zu wickeln.

        Die anderen Genannten sind mir leider nur wenig oder gar nicht bekannt, was ich zunächst einmal bei Spinoza bedauere, ein Mann, der wirklich ein großes Fenster geöffnet hat. Philosophische Lektüre kann ich mir nur sehr sporadisch erlauben, ohne längere realwissenschaftliche Abschnitt dazwischen habe ich nämlich das Gefühl, die Bodenhaftung zu verlieren. Und das ist nicht gut.

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  2. „(A)ls Wissenschaft des Gesamtzusammenhanges“ hab ich die Dialektik auch nicht hernehmen wollen (ich folge beileibe keiner Geschichtsphilosophie, daß „die Geschichte gearbeitet hat“ war eher ironisch), sondern eben genau so, wie Sie es aufgefaßt haben: als Struktur der Aufhebung (in beiderlei Wortsinne). Danke fürs „Systemphilosophieren“ – tu ich sehr gern! 🙂

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  3. „Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
    Das Sichere ist nicht sicher.
    So, wie es ist, bleibt es nicht.
    Wenn die Herrschenden gesprochen haben,
    Werden die Beherrschten sprechen.
    Wer wagt zu sagen: niemals?
    An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
    An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird?
    Ebenfalls an uns.“ (Brecht: Lob der Dialektik)

    Ob der Begriff der Dialektik – „als Wissenschaft des Gesamtzusammenhanges“ (Engels: Dialektik der Natur) – hier wirklich greift, war mir nicht ganz klar. Aber das Gesamtkunstwerk aus Artikel plus Kommentaren macht es evident. Wir haben es hier mit der klassisch marxistisch-dialektischen Figur der Negation der Negation, wie sie Engels im „Anti-Dühring“ und der „Dialektik entworfen hat, zu tun. Die mediale Trias lautet: These: die Realität – Antithese: die Widerspiegelung, das Abbild durch das „unabhängige Medium“ – Synthese: der freigeschaltete Kommentar. In den Worten der Autorin: Geschehen-Öffentlichkeit-Gegenöffentlichkeit.
    Klappt auch im vorliegenden Fall:
    Tatsache – Krone – fauxelle
    Krone – fauxelle – Kommentar etc.

    Nach Engels ein Paradebeispiel einer Höherentwicklung, einer Aufhebung und Überwindung der Widersprüche. Die Romantiker nannten das Symphilosophieren.

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  4. Das Abschalten der Kommentarfunktion ist immer ein Zeichen der Verunsicherung. Einige Medien scheinen überhaupt nur noch wegen der Qualität dieses Bereichs gelesen, so zumindest der Anschein.
    Gegen Trolle und unflätige Inhalte hilft die Freischaltfunktion. Ständige Zensur bleibt nicht unbemerkt. Die zunehmende Vernetzung muss den Systemanimateuren ein Greuel sein. Ausnahmsweise ein erfreulicher Ausblick.

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    1. „Gegen Trolle und unflätige Inhalte hilft die Freischaltfunktion.“ – Stimmt, dazu muss jedoch man jemanden bezahlen, der diese Arbeit tut. Inwieweit dieser Aspekt ins Gewicht fällt gegenüber dem Wunsch zur unbedingten Promulgation der eigenen Wahrheit, die besser keine Infragestellung nahe der Quelle erfahren sollte, kann ich nicht beurteilen. Ich fand vor dem rigiden Ausschließen der Kommentare bei der FAZ diese auch oft informativer als den eigentlichen Artikel. Dort wurde konkrete Erfahrung von vielerlei Seiten sichtbar, wodurch man sich eine Meinung fundierter bilden konnte als durch bloßes Hantieren mit Allgemeinbegriffen, die gewöhnlich nur die schönen Fassaden von Voreingenommenheiten sind.

      Den medialen Torwächtern zuzuschauen, wie sie wild mit der Hellebarde fuchteln, gerade weil sie wissen, dass immer mehr des Warenverkehrs über die unkontrollierten Stadtmauerabschnitte geht, hat in der Tat seinen Reiz. Natürlich wird auch Tand geschmuggelt. Der Konsument hat aber den Rechtschreibfilter, der auch fürs Inhaltliche recht verlässlich zu sein scheint.

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