„It’s the end of the world, as we know it, and I feel fine“ (R.E.M.)
Wir müssen sofort eine bessere Erklärung liefern, eine Erklärung für das, was „das Ende der Welt (wie wir sie kennen)“ (SPIEGEL), der Paradigmenwechsel, der emergente große Umschlag, „the post truth era„, die Wiederkehr der Geschichte, das große Politbeben, Trumpism, Rechtsruck oder der Aufstand der Abgehängten usw. usf. genannt worden ist.
Every motive escalate, automotive incinerate
Light a candle, light a motive, step down, step down
Watch your heel crush, crush, uh-oh
This means no fear, cavalier, renegade and steering clear
A tournament, a tournament, a tournament of lies
Offer me solutions, offer me alternatives, and I decline
(R.E.M. The End of the World, 1980)
Im Grunde sind wir nicht in Erklärungsnot, denn es gibt seit langem Analysen zum Ende der liberalen Gesellschaft, zur Selbstzerstörungskraft des politischen Korrekten, zur Medialisierung und Virtualisierung der Demokratie, zur Kehrseite der Globalisierung, zum Großen Austausch und seinen Folgen, zur Verteidigung des Eigenen, zur Wiederkehr des verdrängten Hypermännlichen, zur Entstehung des linksliberalen Post-68er-Establishments, zur Implosion des Marktes.
Jetzt sind wir dran! Wer den aktuellen SPIEGEL (archivieren, könnte mal Sammlerwert bekommen!) liest, kann nicht ohne Häme die Blattmacher strudeln sehen – in großen Worten betreiben sie das, was Heimito von Doderer einmal „Aufkläricht“ nannte. Häme ist ein funktional notwendiges Anzeichen semantischer Umschläge. Wenn Häme zur Genugtuung wird, ist so ein Umschlag passiert.
Offenbar geben die Begrifflichkeiten des alten Paradimas keine funktional passenden Antworten mehr. Kleine-Hartlages „Sprache der BRD“ war eine Bestandsaufnahme derselben. „Semantik“ ist Bedeutungslehre, zeitlich betrachtet: Beobachtung des Bedeutungswandels von zentralen Begriffen einer Kultur. Veränderungen laufen auf unterschiedlichen Niveaus ab, unterschiedlich abrupt, unterschiedlich zäh, in jedem Fall sind sie eine „Operation am lebenden Körper„, das „Auswechseln einer Differenzform gegen eine andere kommt einer ‚Katastrophe‘ gleich, den Begriff im strengen systemtheoretischen Sinne genommen“ (Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, 1989).
Lassen wir Luhmann mal länger zu Wort kommen, womöglich haben wir dann einen Baukasten zur Beschreibung dessen, was gerade passiert, in der Hand.
1. Teils leistet die Semantik sich probeweise Innovationen, die noch nicht in das Muster strukturstützender Funktionen eingebaut sind und daher jederzeit wieder aufgegeben werden könnten.
2. Teils kontiniuert sie längst obsolete Ideen, Begriffe, Worte, und verschleiert damit die Radikalität des Strukturwandels.
3. Teils wechselt sie in Unterscheidungen die Gegenbegriffe aus, und hält den Term, auf den es ihr ankommt, konstant.
4.Teils fusioniert sie eine Mehrheit von Unterscheidungen nur zu einer.
ad 1.: TRUMP. BECAUSE: FUCK YOU! THAT’S WHY! Codewechsel laufen mitunter durch Unterlaufen des alten Codes, durch Unterbietung einer Unterscheidung. Sie sind dadurch nicht unterkomplex oder dumme Verarsche, im Gegenteil. Trumps politische Verhaltenslehre „NEVER APOLOGIZE. AGREE AND AMPLIFY. REFRAME.“ ist ein strukturell noch loses Fluidum der Machtkommunikation. Politische Kommunikation war bisher von habermasschem Ernst grundiert, Rechtfertigungsforderungen waren endemisch, Distanzierungsforderungen und Rücktrittsforderungen hielten den Code „gut/böse“ immer halb im politischen Code „Macht/Ohnmacht“ drin, man konnte nicht mit ihm und nicht ohne ihn. Zuspitzen, Polarisieren und Verstärken galten als dem demokratischen Konsens nicht zuträglich – jetzt wird probeweise mal polarisiert was das Zeug hält („every motive escalate …„). Kann sein, daß man zurückfahren muß, aber dann ist wenigstens mal ausgesprochen, was unterhalb der „gläsernen Decke“ rumorte. Und dem subjektiven „reframing“ gehört die politische Zukunft! „A tournament, a tournament, a tournament of lies / Offer me solutions, offer me alternatives, and I decline …“, stattdessen setze ich die semantischen Versatzstücke in neue Kontexte, ganz in meinem Sinne. Ich darf das.
ad 2.: „Demokratie“ wird besetzt gehalten im alten Paradigma, demzufolge die „Feinde der Demokratie“ aufseiten rechter Parteien und Medien zu finden sind und „Populismus“ nicht etwa der Sinn, sondern das Gegenteil von Demokratie sein soll. „Europa“ wird verteidigt gegen die „Anti-Europäer“ (unter denen der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie so disparate Typen wie Breivik, Dugin und militante Islamisten versteht, und die rechte Publizistik gleich mal mit einpackt), „westliche Werte“ werden mit linker Ideologie, globalistischer Ökonomie und Gendermainstreaming identifiziert. Dabei passiert diesen Begriffen unter der Hand schon etwas: das Volk wählt sich ganz demokratisch die stakeholder der alten Semantik ab, europäische Kultur wird gegen die EU gesetzt, und die Diskussion um „Werte“ entstammt genau der Islamisierungs-, Leitkultur- und pädagogischen Disziplindebatte, die jetzt aus der alten Semantik heraus als „rechtspopulistisch“ verurteilt wird. Natürlich werden bei einem semantischen Umbruch nicht lauter neue Wörter kreiert, sondern genau die alten, hoch aufgeladenen, umfunktioniert.
ad 3.: Das passiert mit „Volk“ bzw. „people“ gerade. Die alte Distinktion war „Volk/Bevölkerung“ oder „Volk/Regierung“. Im ersteren Falle wird die Hälfte „Bevölkerung“ als irrelevant gestrichten, denn daß Ländern bevölkert sind, ist eh klar, und daß sie nicht beliebig bevölkert sein sollten, wird normativ durch eine neue Unterscheidung eingeführt: „Volk/andere Völker“ (im semantischen Katastrophenfalle auch „Volk/Invasoren“). Die „Regierung“ als Ergebnis demokratischer Willensbildung in Form von gewählten „Volksvertretern“ wird abgestraft, und kritisch durch den neuen Code „Volk/Elite“ bzw. „Volk/Establishment“ ersetzt. Denn daß die Eliten dem Volk gegenüberstehen, und den Kontakt verloren haben, sieht sogar Sigmar Gabriel ein.
ad 4: „Wahrheit/Lüge“, „Wahrheit/Fairness“, „Wahrheit/Wahrhaftigkeit“, „Wahrheit/Medien“, „Wahrheit/Manipulation“, oh, nicht zu vergessen „Wahrheit/Verschwörungstheorie“ – alle diese Oppositionsschemata rutschen zusammen auf einer schiefene Ebene in die Differenz „Wahrheit/Filterblase„. Dieser schöne medientheoretische Begriff mit dem kometenhaften Aufstieg innerhalb weniger Wochen ist ein systemtheoretischer Leckerbissen.
Ursprünglich meinte er die selbstverstärkende zirkuläre Reproduktion personalisierter Internetsuchen. Wenn ich nach „Sex“ suche, bekomme ich das Vice-Magazin, Wikipedia, eine Auststellung über „Sex in Wien“, nach der ich schon einmal gesucht hatte, und ein Theaterstück angeboten, und erst unter ferner liefen das, was manch anderer sofort an erster Stelle stehen oder zu sehen hätte.
Die „Filterblase“ ist – begrifflich umgedeutet nun – das Phänomen, daß die linken, grünen, liberalen Eliten in einem abgeschotteten Raum ihrer Weltdeutung leben, und schlicht ignoriert haben, was das Volk da draußen denkt, treibt und leidet. Ein operativ geschlossenes System mit eigenen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, ständig dabei, seine Weltsicht zu reproduzieren und vor allem: seine Weltsicht für die wahre Sicht auf die Welt zu halten, und dementsprechend bestärkt normativ in die Welt zu intervenieren. Nur – wie Systeme nun einmal sind – hat auch die Filterblase Umwelt. Und die kann sie mit systemimmanenten Mitteln nicht sehen, sie kann sie nur ausschließen aus den eigenen Operationen. Das Ziehen der Differenz „Wahrheit/Filterblase“ ist eine Beobachung von außen, und auch diese Beobachtung passiert nicht unvoreingenommen (geht nicht, ist ja ihrerseits systemisch limitiert).Die Wahrheit außerhalb der Blase zu finden hat eine blasenkritische Funktion, mehr nicht. Irgendwann wird eine neue Differenz gezogen werden (das ist historische Semantik!), wenn man diese nimmer braucht und sowohl die „Filterblase“ dahin ist, als auch „Wahrheit“ nicht länger ihr Gegenteil ist. Noch ist es nicht so weit, der erwähnte Artikel aus der „Süddeutschen“ oben endet mit den filterblasenimmanenten Worten: „Doch das heißt nicht, dass wir uns diesem „echten Leben“ annähern müssen, oder beugen müssen. Wir müssen aufbegehren, laut und deutlich.“
Der Strukturwandel der der Gesellschaft selbst entzieht sich der Beobachtung und Beschreibung durch die Zeitgenossen; und erst nachdem er vollzogen und praktisch irreversibel geworden ist, übernimmt die Semantik die Aufgabe, das nun sichtbar Gewordene zu beschreiben.
Wahrscheinlich bin ich mal wieder viel, viel zu ungeduldig. Aber warum sollte nicht der Strukturwandel der Gesellschaft nach dem großen Umschlag besonders self-fulfilling-prophecy-affin sein? Die medialen Fundamente dazu sind jedenfalls da.