Interkulturelle Erziehung – 10 Jahre danach

Wolfgang Nieke, Schüler des kritischen Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Klafki, dieser wiederum direkter Adept der „Kritischen Theorie“, war einmal mein Professor in Rostock, bei ihm besuchte ich Seminare zur „Kritischen Erziehungswissenschaft“. Bei Nieke läßt sich exemplarisch studieren, welche Mésalliance mit der gegenwärtigen linken Politik die pädagogische Theorie eingegangen ist. Beziehungsweise: es verhält sich da wohl dialektisch, und man bekommt nicht heraus, ob die Politik oder die Pädagogik der Stichwortgeber oder der Vollstrecker war und ist.

Nieke veröffentlichte 1995 (2008 aktualisiert) sein Hauptwerk „Interkulturelle Erziehung und Bildung – Wertkonflikte im Alltag“, in dem er zehn Stufen der Erziehung zum Leben in einer multikulturellen Gesellschaft“ … darstellt? Propagiert? Aus seiner Sicht handelt es sich um Ziele, über die „weitgehende Einigkeit hergestellt werden könne. Das werden wir sehen. Bei Uneinigkeit kann man ja Zwischenbemerkungen einschieben. Eine polemische Intervention, 10 Jahre nach Erscheinen des Werkes:

(1) Erkenne deinen eigenen unvermeidlichen Ethnozentrismus.

Man soll erkennen, dass das eigene Denken immer in die eigene Ethnie und Lebenswelt eingebunden ist. Dieser eigene Ethnozentrismus kann nur bei der Konfrontation mit anderen ethnischen Gruppen erkannt werden.

Stimmt präzise. Weshalb uns gegenwärtig immer schmerzhafter unsere eigene Ethnizität bewußt wird.

Vor allem auch deshalb, weil „Verständnisprobleme dann entstehen, wenn jemand aus der einen Kultur seine Deutungen für jedermann bekannt unterstellt“.

Das ist bei Kulturen, die (noch) die Mehrheit stellen, der Normalfall und wünschenswert.

Dabei ist eine bloße Information über andere Kulturen nicht ausreichend, da „Misstrauen und Angst gegenüber Angehörigen kultureller Minderheiten durch Unvertrautheit entstehen und nicht durch Kontakt und Information abgebaut werden können“.

Stimmt, deshalb scheitern alle möglichen Integrationskurse.

Bei Kontakten ohne die richtige Einordnung in den jeweiligen kulturellen Zusammenhang besteht die Gefahr, dass bestehende Vorurteile noch weiter verstärkt werden können.

Das gilt dann aber für beide Seiten: Fremde, die nicht verstehen, was bei uns Konsens ist, stapeln gleich ein paar Vorurteile drauf, wenn sie anecken oder ihre Praktiken im Aufnahmeland ohne „die richtige Einordung“, nämlich so wie zuhause, ausleben. Und Einheimische ordnen ziemlich treffsicher ein, aus „welchem kulturellen Zusammenhang“ ein bestimmtes Verhalten stammt. „Vorurteile“ werden da meist von Beobachtungen grundiert.
(2) Umgehen mit der Befremdung

Das Fremde soll bewußt wahrgenommen und durchdacht werden, anschließend muß damit umgegangen werden. Das Fremde, das im spielerischen Umgang exotisch wirkt und aus diesem Grunde interessant sein kann, kann im Alltag verunsichern und Irritation und Abwehr erzeugen. Es richtet sich nämlich auf dieselben „Alltagsbereiche wie die eigenen Deutungen und Orientierungen“. Aus dieser Irritation/Befremdung heraus können Phänomene wie Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus entstehen.

Je nun, das Fremde bleibt nur so lange „exotisch“, wie es nicht direkt vor unserer Türe stattfindet. Wenn einem die eigenen „Deutungen und Orientierungen“ unter den Füßen weggezogen werden, erzeugt das nicht bloß Irritation, sondern im günstigen Falle Verteidigungsbereitschaft. Im ungünstigen, wenn einem die Deutungen schon abhandengekommen sind, bloß eine leichte Verunsicherung und das umso heftigere Proklamieren von (3).
(3) Grundlagen von Toleranz

Toleranz ist mehr als Ignorieren und gleichgültiges Akzeptieren von Vielfalt der Lebensformen. Toleranz beginnt erst dort, wo ein Ausweichen nicht möglich ist und wo Weltorientierungen ausgehalten werden müssen, die den eigenen widersprechen. Dabei kann auch die Grenze der Toleranz sichtbar werden.

Toleranz soll also dort (normativ) greifen, wo die „Vielfalt“ schon unerträglich geworden ist und die „kleine Toleranz“ des Hinnehmens nicht mehr ausreicht? Wer in die Enge getrieben ist („ein Ausweichen nicht möglich“) hat ab jetzt tolerant zu sein.
(4) Akzeptieren von Ethnizität, Rücksichtnehmen auf die Sprache der Minoritäten

Die ethnischen und kulturellen Besonderheiten sollen akzeptiert und die verschiedenen Sprachen nicht verdrängt werden.

Parallelgesellschaften. Punkt.
(5) Thematisieren von Rassismus

Aufgabe der interkulturellen Erziehung ist es, das Unbehagen, das oft auch Kinder und Jugendliche den Angehörigen der Minoritäten entgegenbringen, zu thematisieren und dabei die kulturellen Hintergründe deutlich werden lassen. So können die „unbewussten Abwertungstendenzen“ bewußt gemacht werden, es kann daran gearbeitet werden, dass diese blockiert werden und schließlich ganz verschwinden.

Das Unbewußte der Kinder blockieren. Das greift ganz, ganz tief in die Umerziehungskiste. Das Unbehagen könnte ein natürlicher Schutzmechanismus sein. Dieser sollte „bewußt gemacht“ werden, damit nicht völlige geistig-seelische Schutzlosigkeit die Folge ist.
(6) Das Gemeinsame betonen, gegen die Gefahr des Ethnizismus

Bei dem „Versuch, die Besonderheiten einer Kultur im Sinne von Lebenswelt zu berücksichtigen und ihnen eine Eigengeltung zu verschaffen, besteht unvermeidlich die Gefahr“, dass auch Kultur, die nicht mehr gelebt wird, künstlich aufrechterhalten werden kann. Somit könnte Kultur als ‚Folklore‘ abgewertet werden, was aber nicht Sinn ‚interkultureller Erziehung‘ ist.

Die eigene oder die fremde Kultur? Die eigene „wird nicht mehr gelebt“, es wäre also „künstlich“, an ihr festzuhalten. Die fremde hingegen darf nicht als „Folklore abgewertet“ werden.
(7) Ermunterung zur Solidarität; Berücksichtigung der asymmetrischen Situation zwischen Mehrheit und Minderheit

Solidarität unter Minoritäten soll gefördert werden. Dazu muss es die Bereitschaft der Majoritäten geben, Minoritäten Platz einzuräumen. Die Angehörigen der Minoritäten sind zur gegenseitigen Solidarität zu ermuntern, um ihre politische Kraft zu stärken.

Das geht einen Schritt weiter als (4): den Fremden das Feld räumen.
(8) Einüben in Formen vernünftiger Konfliktbewältigung – Umgehen mit Kulturkonflikt und Kulturrelativismus

In Alltagssituationen kann es kein Nichthandeln geben. Die Entscheidungen in wertbedingten Konflikten können in virtuellen Diskursen, die auch die Geltungsbedingungen der Argumente in die Reflexion miteinbeziehen, bearbeitet werden.

Viel Spaß dabei! Ein Bekannter berichtete mir, er habe mit einem Migranten in einen „Reflexionsprozeß eintreten“ wollen über unsere Regeln, weil dieser falsch parkte. Doch dieser gab zurück „Ey, willst mich anzeigen?“.

(9) Aufmerksam werden auf die Möglichkeit gegenseitiger kultureller Bereicherung

Gegenseitige kulturelle Bereicherung soll als positiv begriffen werden. Bei der interkulturellen Erziehung ist die gegenseitige Bereicherung durch „Übernahme von Elementen aus anderen Kulturen in die eigene“ entscheidend.

Das Wort „Bereicherung“ ist in this current year nur mehr Hohn und Spott. Und wenn es einer versucht, sich an „Elementen aus anderen Kulturen“ ästhetisch zu bereichern, und zum Beispiel Rastalocken, Tribal-Tätowierungen, Zipfelbärtchen oder Perlen im Haar trägt, fällt das unter „kulturelle Aneignung“ und wird scharf kritisiert.

(10) Thematisierung der Wir-Identität: Aufhebung der Wir-Grenze in globaler Verantwortung oder Affirmation universaler Humanität?

Die Zugehörigkeit zu Lebenswelten (Ethnien, Kulturen) definiert unvermeidlich die Grenze zwischen Wir und Die.

Korrekt.

Es ist aber möglich, diese Grenzen zu erweitern, wenn größere Einheiten des Wir gedacht werden: Staatsbürger, Weltbürger bis hin zu einer nichtanthropozentrischen Erweiterung auf Tiere und den gesamten Kosmos.

Nur in der Theorie. Das ist die Crux des Universalimus: sie erweitert in konzentrischen Kreisen das „Wir“, bis von seiner Substanz nichts mehr übrig ist. Das psychedelische Aufgehen in einem Wir mit dem „gesamten Kosmos“ ist der Gipfel der Utopie und in keiner Weise mehr handlungsrelevant.

 

Stünde dies alles nur in einem zehn Jahre alten Buch, wäre das ein abgeschlossenes Kapitel. Es wird indes gegenwärtig allen Lehrern so gelehrt, und ist prüfungsrelevanter Stoff, siehe hier: https://youtu.be/_OZf3lHd4YE

 

 

2 Gedanken zu “Interkulturelle Erziehung – 10 Jahre danach

  1. Mich irritiert, dass hier der Adressat interkultureller Erziehungsarbeit fast ausschließlich die Mehrheitsgesellschaft ist. Welche spezifischen Adaptionsleistungen Minderheiten zu erbringen hätten, bleibt unberücksichtigt. Insofern vermag der Autor den Perspektivwechsel, den er anderen anempfiehlt, in dieser Hinsicht selbst nicht zu leisten.
    Interessant wäre auch, ob und wie der Autor begründet, warum eine multikulturelle Gesellschaft ein erstrebenswertes „summum bonum“ sein soll und warum jedermann überhaupt dazu erzogen werden müsse. Sollte nicht qua Einsicht ein vorgeblich Evidentes von sich aus überzeugen, ohne mit Maßregelung (= Erziehung) bewährt zu sein? Mein Verdacht ist, dass hier etwas begründungslos vorausgesetzt wird, dessen Faktizität fraglich und dessen Geltung umstritten ist.
    Nichtsdestotrotz, wie sähe denn ein Erziehnungskonzept zum Ethnopluralismus aus?

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    1. Hah, das ist ein guter Vorschlag. Lichtmesz schreibt an einem Buch über „Ethnopluralismus“ und ich an einem über Erziehung. Damit stricken Sie uns wieder zusammen. Ich werde genau darüber über den Sommer nachdenken und etwas zu Papier bringen.

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