Merkels Logik

Es dürfte grundsätzlich müßig sein, Merkels Worte auf die formallogische Goldwaage zu legen. Doch erstens kann ich es nicht lassen (Laster der Rationalitätsunterstellung), und zweitens ist der folgende zu kommentierende Sachverhalt ausnahmsweise keine singuläre sprachliche Entgleisung Merkels, sondern ein typischer remplaciste– Kategorienfehler.

In ihrer Demminer Rede  äußerte Bundeskanzlerin Angela Merkel folgende Sätze:

Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt: die Würde des Menschen ist unantastbar. Da geht es um jeden Menschen.

Wer ist „jeder Mensch“? Die Frage scheint an und für sich einfach zu beantworten zu sein. „Jeder Mensch“ ist jeder Mensch, der auf dieser Erde lebt. Der Quantor „jeder“ bezieht sich in der Alltagssprache auf eine Menge, von der „jeder“ ein Element ist. „Jeder Mensch“ ist also Element der Menge „alle Menschen“.

Doch nicht alle Eigenschaften, die auf ein Element einer Menge zutreffen, treffen auf die Menge zu. Sehr schön erklärt findet man diesen logischen Fehlschluß hier.

Wenn die „Würde des Menschen unantastbar“ ist, gilt dies für die Gesamtmenge aller Menschen, „des Menschen“ ist ein Allquantor. „Würde“ kommt doch wohl aber nicht „der Menschheit“, sondern jedem einzelnen Menschen zu, nicht wahr? Nicht immer ist das so einfach, denn:

Alle hat also schon in der Logik und Mathematik zwei völlig verschiedene Grundbedeutungen: allejals jeder beliebige einzelne und allek als Kardinalzahl (Anzahl), allleg Ganzes oder Gesamtheit.oder alles als Summe der Teile.

Merkel benutzt die alltagssprachliche Vermischung von „alle“ und „jeder“, um  – mir nichts, dir nichts –  jeden Menschen (der auf dieser Welt lebt und leben wird, ist damit impliziert) als Empfänger der Segnungen „unseres Grundgesetzes“ zu adressieren.

Nur weil das Grundgesetz  u n i v e r s e l l e  Geltung hat (sich also prinzipiell im kantischen Sinne auf  a l l e  Menschen richtet), ist damit nicht  j e d e r  Mensch gemeint. Gemeint ist „jeder Mensch, der Element derjenigen Menge von Menschen ist, auf die sich unser Grundgesetz bezieht“. Es bezieht sich auf das deutsche Volk, also ist „jeder Mensch“ in Merkels Satz eigentlich: jeder Deutsche. Die Allgemeingültigkeit der Präambel des Grundgesetzes verführt dazu (wie jeder Fehlschluß eine Verführung des Verstandes mit den Mitteln der Alltagssprache ist), von „alle“ auf „jeder“ zu schließen.

Der springende Punkt ist also nicht, daß sich Merkel auf das Grundgesetz bezieht, wenn es ihr in den Kram paßt, und es aushebelt, wenn es ihr nicht in den Kram paßt. Dies ist seit 2015 rauf und runter kritisiert worden und war Gegenstand von Schachtschneiders Verfassungsklage. Der springende Punkt ist, daß die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte zum gern affirmierten Instrument des Großen Austauschs wird, weil elementare Logik als Hebel nicht mehr ausreicht, die Dispositive der Macht zu untergraben. Trotzdem weiterzuhebeln ist ein weiteres schwer zu unterdrückendes Laster von mir.

8 Gedanken zu “Merkels Logik

  1. DIe Autoren hat in ihrer Angst vor dem sogenannten Großen Austausch Grundlegendes nicht verstanden. Artikel 1 GG liegt eine Idee von der sitllichen Autonomie des Menschen zugrunde, aus der ein normativer Gestaltungsauftrag resultiert, der sich einerseits an das Individuum richtet (Kants Menschheitszweckformel) und andererseits die Gesellschaft adressiert, wie es bei Art. 1 GG der Fall ist. Entscheidend sind nicht mengentheoretische Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems und dessen Totalität, vielmehr ist die Frage, ob die Subjektqualität eines/jedes einzelnen Menschen gewahrt ist oder nicht. Die Subjektqualität „Würde“ zu schützen ist Aufgabe der staatlichen Gewalt. Ihre Behauptung, die universelle Gültigkeit des Artikels 1 beziehe sich nur auf jeden Deutschen, ist Unsinn, da der Schutzauftrag des Staates, die Menschenwürde zu gewährleisten, natürlich jeden Menschen im Geltungsbereich des GG meint. Vor allem aber wird die Menschenwürdegarantie in ihrer klassischen Kommentierung (Günter Dürig) als vorpositives Fundamant der positiven Rechtsordnung verstanden, geht also dem Staat immer schon voraus (!), woraus letztlich der universelle Charakter der Menschenwürde resultiert. Ihr argumentativer Ansatz ist also inkommensurabel in Bezug auf den Würdebegriff, veranschaulicht aber umso schöner, zu welchen Sophistereien man sich so versteigen kann, wenn man einer bestimmten Ideologie anhängt.

    Like

    1. Gesinnungsethik argumentiert so, da haben Sie recht, Herr Lämmel. Die „sittliche Autonomie“ des Menschen kann aber auch ganz schnell an ein vollkommen empirisches Ende kommen. Daß dann immer noch Normen („kontrafaktische Verhaltenserwartungen“, Luhmann) qua Normativität gelten, ist wunderschön, allein, die Adressaten sind in Lebensgefahr oder haben aufgehört zu existieren. Begründungslogisch sind die Menschenrechte universell, das wissen wir seit Kant. Anwendungslogisch – und um nichts anderes geht es in Merkels Äußerung – ist ein konkreter Staat (da halt ich es dann eher mit Hegels Sittlichkeitsbegriff) als Legislative auf sein Territorium und sein Volk beschränkt, und Merkel schummelt uns da die Begründungslogik unter, um die Beschränktheit der Anwendungslogik auszuhebeln.

      Like

      1. Mein Kommentar bezog sich auf Ihre formallogische Argumentation. Ihre Replik hierzu wechselt nun auf das Feld empirisch-konsequenzialisticher Erwägungen. Abgesehen davon, dass dies an dieser Stelle inkonsistent ist, können Sie sinnvoller Weise nicht behaupten, Merkel würde das Menschenwürde-Argument begründungslogisch instrumentalisieren, da dies nuneinmal dessen moralethischer Sinn ist. Ihre Vorbehalte gründen weniger auf Merkels Äußerung, sondern vielmehr auf Ihrer Bereitschaft, den grundlegenden moralischen Konsens einer universalistischen Würde des Menschen aufzukündigen zugunsten einer völkisch gedachten Exklusivität von Rechten, die Sie einer Gruppe von Menschen aufgrund angeblicher gruppenspezifischer Merkmale zubilligen. Ihr imaginiertes anwengungslogisches Dilemma eines „empirische[n] Ende[s]“ der Normativität der Menschenwürde ist also in der Logik von Staatsvolk und Staatsterritorium gar kein Dilemma, weil sie die darfür notwendigen Prämissen nicht teilen. Ich jedenfalls neige zu der Ansicht, dass meine Menschenwürde bei meinem nächsten Urlaub im kommenden Sommer auch außerhalb bundesrepublikanischer Grenzen fortbesteht, gleiches erhoffe ich für Menschen, die qua Geburt keinen deutschen Pass besitzen und aus welchen Gründen auch immer (Urlaub, Flucht, Forschungsreise, Exil, Partyurlaub…) im Geltungsbereich des GG aufschlagen.

        Like

      2. @ Lämmel

        “ Die Subjektqualität „Würde“ zu schützen ist Aufgabe der staatlichen Gewalt.“ – An diesem Punkt gibt es wohl keine Differenz. Die Entität „staatliche Gewalt“ bezieht sich jedoch auf eine abgrenzbare Größe. Der Denkfehler vieler alle-Menschen-habe-alle-die-gleiche-Würde-Denker liegt in der maßlosen Ausweitung des Begriffes Würde, den der (deutsche) Staat zu gewährleisten habe. Ein Ugander mag die gleiche Menschenwürde besitzen wie Sie, aber kann deren Gewährleistung nicht automatisch von der deutschen „staatlichen Gewalt“ einfordern. Würde das Usus, wird die „staatliche Gewalt“ nebst Würde aller bald Historie sein. Gesinnungsethiker müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie bereit sind, bis zu diesem letzten Schritt zu gehen!

        Das zweite Problem liegt bei Ihnen in der Annahme, die „Würde“ sei ein gottgesandter in Stein gemeißelter universalistischer Begriff. Im Gegensatz etwa zum Geschlecht – was ich bemerken kann, wenn ich an mir herunterschaue – ist die „Würde“ ein Konstrukt und kann jederzeit umkonstruiert oder dekonstruiert oder gar destruiert werden – wie das etwa die linke Kryptoikone Ulrike Meinhof tat: Die Würde des Menschen ist antastbar.

        Die quasi-heideggeresche Wortwahl des „Aufschlagens“ im Geltungsbereich des GG ist erhellend!

        Im Übrigen steht es Ihnen frei, sich zu wünschen auch anderswo würdevoll behandelt zu werden. Versuchen Sie es doch z.B. einmal als Homosexueller in Indonesien oder als kleiner Kiffer in Thailand … Dort lernt man den Konstruktcharakter schnell kennen:

        http://www.faz.net/aktuell/schwules-paar-in-indonesien-oeffentlich-ausgepeitsch-15029432.html

        http://www.nachrichten.at/nachrichten/ticker/Drogen-OEsterreicher-droht-Todesstrafe-in-Thailand;art449,840509

        Like

        1. „Gesinnungsethiker müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie bereit sind, bis zu diesem letzten Schritt zu gehen!“ —- Zumindest sind sie gesinnungsethisch dazu bereit. Meine Lebenserfahrung sagt mir, selbst diese Leute sind nicht sans frontières. Sie können sogar recht rabiat werden, sollte ihr Besitzstand einmal wirklich gefährdet sein!
          Diskursiv gesehen ist das größte Problem für Herr Lämmel u. Kollegen das Thema „Konstruktion“. Sie wissen zumeist, dass auch ihre hehren Grundsätze interessegeleitete Konstrukte sind. Mit dem, was Deutschtum, deutsche Interessen etc. heißen könnte, haben sie allerdings tief innerlich gebrochen. Gib ihnen das „Heerlager der Heiligen“ zu lesen, diese geniale (hoffentlich nur romaneske) Antizipation realer Vorgänge, u. sie sagen dir überzeugt ins Gesicht: Ja und? … Selbst wenn …

          Like

  2. Mit der formalen (Aussagen-)Logik werden Sie den Streitern der Kanzlerin kaum beikommen …
    Segeths Lehrbuch lässt sich nicht heranziehen, da der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ normativ gemeint ist. Sie s o l l es sein, denn tatsächlich wird sie — selbst in der BRD — ständig angetastet. Als Philosophin müssten Sie also „deontologisch“ argumentieren. Das aber wird schwierig, da die Norm keine Ausnahme gestattet. Hier ist „der Mensch“ = jeder konkrete Mensch, jeder der jemals gelebt hat oder leben wird. Anders ist es etwa mit Noelle-Neumanns schönem Buch „Alle, nicht jeder : Einführung in die Methoden der Demoskopie“, das ich sogar einmal gelesen habe 🙂 Demoskopisch aber sollte man hier auch nicht argumentieren, die Umfragen hat Merkel ebenfalls auf ihrer Seite.
    Fazit: Die Kanzlerin hat „wieder einmal“ recht.

    Like

  3. Wie erzähle ich es meinem Kind?
    Ich gebe zu, ich hatte schon immer einen Faible für den Philosophenstaat Platons – der Artikel gibt mir Bestätigung. Jetzt müßten wir uns nur noch in einem gesamtgesellschaftlichen herrschaftsfreien Diskurs zusammensetzen und zu diesem Konsens gelangen … was für ein Trauerspiel!

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar